Art Projects
       

RECALL ATLANTIS - Zeit der Synthese, Zeit der Erinnerung

Von Peter Lodermeyer

 

Recall Atlantis – Dialektik der Utopie Es ist ein kulturell tief verankertes Wissen, dass selbst die gelungenste, die scheinbar ideale Zivilisation vom Untergang bedroht ist. Atlantis als ferner Mythos der Antike und - als „New Atlantis“ (Francis Bacon, 1626) - zugleich Zukunftsmodell moderner Gesellschaftsutopie ist hier das symbolträchtige Paradigma. mehr...
In ihrem Projekt Recall Byblos - Kunst der Mitteilung (1993) hatte sich Kontrec der phönizischen Schrift als dem ersten modernen Alphabet gewidmet, der wichtigsten Spur einer Zivilisation, die bis auf wenige Artefakte völlig verschwunden ist. In Recall Atlantis wagt die Künstlerin nun einen Schritt weiter ins Unbekannte: ATLANTIS stellt noch mehr offene Fragen und bietet damit einen unbegrenzten künstlerischen Freiraum.

Dabei bezieht sich Anita Kontrec auf das poetische Werk von William Blake. Als Hommage an den englischen Dichter, Maler und Visionär entwickelt sie so etwas wie eine Dialektik der Utopie. Mir scheint, dass sich die drei Blakeschen Bewusstseinsstufen Innocence, Experience und Higher Innocence, auf die sie dabei zurückgreift, ganz direkt auf drei Merkmale ihrer Bildobjekte beziehen lassen: Farbe, Kontext und Licht sind dabei die Stichworte

Die Farbe als reiner Buntwert, durch kontrastive koloristische Zweiklänge noch gesteigert, entspricht am ehesten Blakes Bewusstseinsstufe der Innocence. Der zweckfreie, ungezwungene Umgang mit Farbe, anders gesagt: Farbe als sinnlicher Genuss, ist zunehmend aus ganzen Bereichen unserer post-industriellen Gesellschaften verschwunden und in Randbereiche verdrängt worden: Kindergärten sind bunt, Büros, Fabrikhallen und Hörsäle jedoch meist farblos weiß oder grau. Das absichtsvoll „naive“ Kombinieren von starken Farbklängen, zudem in Kombinationen von einfachen Landschaftselementen wie Erde, Wasser, Luft und Feuer eingebracht, wecken zumindest momenthaft das unschuldige Auge unserer Kindheit. Doch jedes Ideal von Unschuld benennt unvermeidlich ein verlorenes Paradies, ein Sehnsuchtsziel, das die Glücksversprechungen der Werbung und des Konsums immer wieder neu inszenieren. Auf diese Ambivalenz weist die Installation „Paradise Now“: Wo uns Glückssurrogate verkauft werden sollen, sind immer auch Farbe und Farbpsychologie mit im Spiel.

Anita Kontrec ist bei allem Sinn für geistige Themen eine durchaus pragmatische Künstlerin. Was sie anstrebt, sind Kunstwerke, welche die Menschen im Alltag begleiten. Ihre Bildobjekte sind auf konkrete Kontexte hin entworfen: als Ruhe- oder Belebungspunkte in Arbeits- und Wohnräumen, in Gärten, Büros, Empfangshallen oder Treppenhäusern. Sie sind leicht, transportabel, wetterfest, „pflegeleicht“ und flexibel verwendbar. Anita Kontrec’ Arbeiten sind oft „site-specific“: aus dieser Kontextbezogenheit, d.h. aus dem Zusammenspiel mit sozialen und architektonischen Gegebenheiten entwickelt die Künstlerin ihre Gedanken über Kultur und Urbanität. Dieser Aspekt ihres Werkes korrespondiert somit der Bewusstseinsstufe, die Blake als Experience bezeichnet, die Stufe der Zivilisation, der pragmatischen Entscheidungen, der Weltanschauungen, der Ideologien, des „Richtig“ und „Falsch“, der in Konkurrenz zueinander befindlichen Perspektiven und Lebensstile, der Dualismen und Interessenskonflikte und des ihnen entspringenden technischen und kulturellen Wissens - kurz: der Stufe des städtischen Lebensform der Moderne, der wir noch immer verhaftet bleiben, und deren Poet T.S. Eliot war, auf dessen Texte Kontrec in „Recall Atlantis“ zurückgreift.

Wenn es die Bewusstseinstufe der Higher Innocence im Sinne Blakes geben kann, dann nur jenseits der Dualismen und Gegensätze, in denen sich die meisten Kulturen und Zivilisationen eingerichtet haben. Und falls die Kunst sie überhaupt thematisieren oder zumindest erahnbar machen kann, dann nur, indem sie auf etwas hindeutet, was uns unverfügbar ist, was sich nicht herstellen lässt, sondern einfach da ist, präsent, uninterpretierbar, unbegründbar. Im Fall der Bildobjekte von Anita Kontrec ist es das, was diese Werke erst sein lässt, was sie sind: das Licht. Ab 2005 hat die Künstlerin in ihren Bildobjekten die Farbe immer mehr auf ihr Wesen zurückgeführt, auf das weiße Licht als Summe und Quelle aller Farbigkeit. Weißpigmente und die Transparenz des Kunstharzes sind die bevorzugten formalen Mittel dieser Arbeiten. Weiß bringt die Struktur der Materialoberflächen am prägnantesten zum Vorschein, die unendlichen Variationen von feinsten Helligkeitsunterschieden und subtilen Materialwirkungen, die so vielfältig und wechselhaft sind wie Lichtreflexe auf Wasser oder Eis. Es ist das Licht in Kontakt mit dem Material, das diese Kunst formt. Das dritte Kapitel von „Recall Atlantis“ mit dem Titel „Der siebente Teil des Himmels“ ist eine Feier des Lichts: Licht, das von den Fenstern her die Objekte durchdringt; Licht, das sich im Weißpigment reflektiert; Licht, das den Raum erfüllt; Licht, in Higher Innocence präsent. So wie in Kontrec’ Arbeit „Mensch“, die ein zeitloses, tanzendes Lichtwesen zeigt, in dem Mikro- und Makrokosmos vereint sind. Diese Figur als „Reinform“ des Menschlichen, dessen Assoziationsspielraum vom Höhlenbewohner bis zum Astronauten, vom Embryo bis zum Gottmenschen reicht, ist der ebenso ernste wie heitere Ausgangs- und Zielpunkt der Ausstellung.
Summary Die Ausstellung „Recall Atlantis“ bedeutet für Anita Kontrec die Möglichkeit, in Zagreb, dem Ort ihrer künstlerischen Anfänge in den 1980er Jahren, ihre Grundthematik mit den neuen Mitteln ihrer „Bildobjekte“ ausführlich vorzustellen. mehr...
Trotz aller Wandlungen in ihrem Werk ließen bereits ihre frühesten Schamottskulpturen aus den 80er Jahren formale und inhaltliche Konstanten erkennen, die sich bis in ihre jüngsten Arbeiten aus Kunstharz durchgehalten haben. Zum einen ist dies die Bevorzugung einer einfachen Formensprache, die alles Konstruierte und Strenge zugunsten einer organischen Sanftheit vermeidet. Zum anderen handelt es ich um die Tatsache, dass ihre Arbeiten immer mit den Basisgegebenheiten der menschlichen Kultur verbunden sind. Landschaft, Architektur und Schrift bzw. Sprache sind dabei die wichtigsten Bezugspunkte, auf die sie immer wieder rekurriert. Indem sie das Grundvokabular ihrer Arbeit durchdekliniert, entwirft Kontrec in „Recall Atlantis“ eine Art Dialektik der Utopie, wobei sie sich auf die Begrifflichkeit von William Blake bezieht. Die drei Bewusstseinsstufen, die Blake als Innocence, Experience und Higher Innocence bezeichnet, lassen sich dabei direkt mit gewissen Eigenschaften der Bildobjekte verknüpfen. Während die Farbe als sinnliches Phänomen die unschuldige Paradiesesvorstellung der Innocence aufscheinen lässt, verweist die Kontextbezogenheit ihrer Bildobjekte auf die urbanen und pragmatischen Aspekte der Moderne, auf die zivilisatorische Stufe der Experience, für die u.a. Textfragmente von T.S. Eliot explizit hinweisen. „Atlantis“, die untergegangene mythische Stadt der Antike, steht dabei für das Ideal der Zivilisation ebenso wie für ihre Gefährdung. Die höhere Bewusstseinsstufe der Higher Innocence, in welcher die Dualismen der Zivilisation überwunden sind, entzieht sich einer direkten begrifflichen Bestimmung. In Kontrec’ Ausstellungskonzept ist es das Licht als natürliche Erscheinung ebenso wie als symbolisches Zeichen des menschlichen Geistes, das hier zumindest eine Andeutung zu geben vermag.

Katalog RECALL ATLANTIS:
46 Seiten, dreisprachig (englisch, deutsch und kroatisch) mit zahlreiche Farbfotos von Damir Fabijanic, Graphic Design Studio Rasic; Katalogtext. Dr. Peter Lodermeyer
ISBN: 953 –6508 –32 –x

The exhibition and the catalogue have been realised with the financial support of the Ministry of Culture of the Republic of Croatia and the City of Zagreb.

RECALL ATLANTIS - Links:
www.hdlu.hr
www.studio-rasic.hr
www.fabijanic.com
www.lodermeyer.com